Philipp
Schmidt-Rhaesa,
Universität Osnabrück:
Entwicklung der Liedermacherei
1. Vom Kriegsende bis zur Burg Waldeck
(Zum 40.
Jahrestag
des Festivals
auf Burg Waldeck - zum ersten Mal traf man sich 1964 - fand u.a.ein Gespräch
statt, auf dem
Festival "Politik und Musik 2004". Unter
Leitung von Folker!-CvD
Michael Kleff diskutierten Bernhard Hanneken
(Festival-/Konzertveranstalter und freier Journalist, Freising), Eckard
Holler
(Pädagoge, Tübingen), Diethart Kerbs (Kunstpädagoge,
Kultur-
und Fotohistoriker, Berlin), Lutz Kirchenwitz (Kulturwissenschaftler,
Berlin),
Tom Schroeder (Journalist und Rundfunkmoderator, Mainz) sowie Hein und Oss
Kröher (Musiker, Pirmasens). Eine ausführlichere
Dokumentation
dieses Gesprächs sowie der anderen Diskussionen und Workshops
findet
sich in der vom Verein Lied und soziale Bewegungen herausgegebenen
Broschüre "Festival Musik und Politik 2004".
Auf
der Seite finden sich auch aktuelle Fotos von u.a. Tom Schröder, Bernd
Witthüser, Walter Mossmann)
Nachkriegszeit
Nach dem Krieg ist eine Stagnation des Liedgesangs in
Deutschland überhaupt
zu beobachten. Hauptgrund ist der Missbrauch des Liedes durch die
Nationalsozialisten.
"Kurz nach Kriegsende hatte man wenig Lust zu singen. Noch
hatte
man die Lieder der Faschisten im Ohr, die verlogenen Schnulzen der
Hitlerjugend
('Es geht eine helle Flöte') und die blutrünstigen
Marschgesänge
von SA und Naziwehrmacht."
Trotzem ist der Nationalsozialismus nicht der einzige Grund für
ein distanziertes Verhältnis zum Lied. Die kulturellen
Unwälzungen
der Kriegs- und Nachkriegszeit haben über die Erkenntnis hinaus,
dass
das Lied missbraucht wurde, einen breiten Traditionsbruch
überhaupt
erst spürbar gemacht.
"Die deutschen Liedermacher - heißt es immer wieder - haben
wegen des Missbrauchs in der Nazizeit Probleme mit dem deutschen
politischen
Lied, mit der Tradition des "Volksgesangs" überhaupt. Doch viele
der
bunten Traditionsfäden beim populären Singen wurden viel
früher
abgeschnitten, ohne dass neue geknüpft worden wären."
(Barbara James)
Franz Josef Degenhardt fasst diese
Negation
des Liedes später in einem Lied zusammen, das in praktisch allen
Publikationen,
die sich mit der Geschichte der deutschen Liedermacher
auseinandersetzen,
zitiert wird:
"Tot sind unsere Lieder
unsre alten Lieder.
Lehrer haben sie zerbissen,
Kurzbehoste sie zerklampft,
braune Horden totgeschrien,
Stiefel in den Dreck gestampft."
1968, als Degenhardt diesen Text veröffentlicht,
ist eine
breite
Rekonstituierung des Liedes im vollen Gange; er wird im von Barbara
James
genannten Sinne als ausschließliche Manifestation des NS-Traumas
gedeutet, obwohl sich der Autor in ihm generell gegen die Okkupation
des
Liedes wendet, von welcher Seite auch immer (außer der eigenen,
versteht
sich). Außer den "braunen Horden" sind hier die singenden
Pfadfinder
und Wandervögel ("Kurzbehoste") ebenso gemeint wie der
verschleißende
Volkslied- gebrauch in Schulen ("Lehrer haben sie zerbissen").
Dass
die "alten Lieder" von "Stiefeln in den Dreck gestampft" worden seien,
muss kein auf Nazistiefel begrenzter Hinweis sein; auch die Bundeswehr
sang und singt heute noch. Das Lied konstatiert also die mehrfach
gebrochene
deutsche Liedtradition.
(Besonders ist hier die intellektuelle Liedrezeption gemeint. Die
Mechanismen,
die sich über die Unterhaltungsmusik und die schlagerhafte
"Volksmusik"
ergeben, sind hier gänzlich unberücksichtigt. Es kann
lediglich
konstatiert werden, dass in Deutschland der Bruch zwischen
kommerzieller
Volksmusik und "intellektueller" Folklore-Pflege nicht zu
überbrücken
ist; es existieren zwei Musikformen mit unterschiedlichen Märkten
und Künstlern ohne Berührung nebeneinander).
Ostermarsch
Bevor es zur Entwicklung dessen kommt, was wir
"Liedermacherszene" nennen,
werden dennoch neue Lieder
geschrieben und aufgeführt. Der Schriftsteller Gerd Semmer beginnt
schon Anfang der 50er Jahre, politische Lyrik
in Liedform zu verfassen, die kritisch Stellung
zu den aktuellen Themen der politischen Öffentlichkeit nimmt. Dieter
Süverkrüp, der als Jazzgitarrist und
Moritatensänger einigen Erfolg hat, übernimmt, nachdem
er und Semmer sich
1956 trafen, die Vertonung und Aufführung der Semmer-Texte .
Der "Typus Liedermacher" ist also bereits in den
50ern wieder aktuell: ein
Mann mit Gitarre singt (noch nicht selbst verfasste) Texte
anspruchsvoll-politischen
Inhalts.
Dieter
Süverkrüp
|
Die Lieder von
Süverkrüp/Semmer bekommen in der ab
1960 im Zuge der
Atomdebatte
beginnenden Ostermarsch-
Bewegung Publikum und Bedeutung. Überhaupt ist es
diese
Bewegung, die das neue
Lied in den folgenden Jahren
entscheidend trägt und bildet.
Sie bringt als Antwort auf
Wiederaufrüstung, kalten Krieg und internationale Konflikte
ein
von der deutlichen Kritik
an den Herrschenden und der Forderung nach "Frieden"
geprägtes Liedgut hervor.
Die Protagonisten dieser
Bewegung sind vor allem Semmer,
Süverkrüp,
die Sängerin Fasia Jansen und andere.
Die Ostermarsch- und Friedensbewegung
nimmt Anfang der 60er Jahre neben den ersten
Semmer-Liedern auch Lieder aus
der amerikanischen Protestbewegung auf, besonders
"We shall overcome". Die sich
Anfang
der 60er Jahre langsam formierende musikalische
Protestkultur greift noch
sehr zaghaft auf eigene Lieder zurück. Trotzdem
ist sie als
Bewegung
ein guter Humus für neue Lieder: sie hat ein Thema, Tausende
begeisterter
(junger) Leute, den Bedarf nach eigener
kultureller
Betätigung.
Bündische Jugend
|
Nach dem Krieg hatten sich einige der im
Nationalsozialismus
verbotenen
oder in die HJ integrierten Gruppen der Jugendbewegung neu formiert.
Auch
die wieder erstande Bündische Jugend singt wieder. Wie vor dem
Krieg
ist es Folklore, die die jungen Sänger beschäftigt. Es wird
heute
bisweilen behauptet, dass ein großer Teil der Jugendbewegung
latent
nationalistisch und somit über die Eingliederung ins Dritte Reich
nicht unerfreut gewesen sei. Tatsächlich aber kennzeichnete die
Bewegung
auch eine große ideologische Heterogenität, die von
romantisch
verklärter Weltflucht bis zu
revolutionär-antibürgerlichem
Pathos, von nationalistischen bis zu sozialistischen Tendenzen reichte.
Eine der wichtigsten Gruppen, die "Deutsche Jungenschaft dj 1.11" unter
Eckhard Koebel, genannt "tusk", versuchte sich vor dem Krieg sogar in
antinazistischer
Agitation . "tusks" dj 1.11 wird von den Nationalsozialisten
folgerichtig
total zerschlagen.
Burg Waldeck
Wie
alles anfing (1)
"Aus
den ganzen Gesprächen, die wir auf der Waldeck oder in Berlin
führten, ist dann die Idee entstanden, nicht mehr nur Seminare zu
machen und theoretische Orientierungssuche zu betreiben, sondern eben
auch mit dem wunderbaren Gelände der Waldeck, mit dieser
schönen Landschaft, etwas zu machen, was nun nicht das
Wiederaufkochen der alten bündischen Suppengerichte wäre,
sondern tatsächlich etwas Neues. Da wirkten die Kulturerfahrungen
nach, die wir teils aus der bündischen Jugend hatten, teils
inzwischen neu gemacht hatten, also die Platten von Ernst Busch, die
Lieder von Brecht und Weill und alles dies, auch die internationale
Folklore, das hatten wir schon auf der Pfanne. Aber es erschienen dann
auch in Ostberlin Bücher, wie das von Gerd Semmer, mit
Übersetzungen französischer Revolutionslieder."
Diethart
Kerbs: Die Entstehung der Waldeck-Festivals in den sechziger Jahren.
Vortrag auf dem Treffen des Mindener Kreises am 04.0 6.1994 in
Minden/Westfalen; Köpfchen 1/1996, S. 13 ff.
|
Bereits
in den 20er Jahren hatten Gruppen des "Nerother
Wandervogels"
im Hunsrück bei Kastellaun mit der Burg Waldeck eine Burgruine
entdeckt,
auf der sie ein Zentrum des Wandervogels, einen "Lehrstuhl der
Vagabondage"
errichten wollten. Die idyllisch gelegene Ruine war fortan Treffpunkt
von Wandervögeln.
Nach dem Krieg treffen sich die wiedergegründeten Bündischen
Gruppen wieder, wie vor 1933 auf der Burg. Parallel zur
Friedensbewegung
entwickelt sich hier ein neues Verständnis vom Lieder singen. Ende
der 50er Jahre wird aus den Kreisen der Bündischen Jugend eine "Arbeitsgemeinschaft
Burg Waldeck" (ABW) gegründet, die die Burg
organisatorisch verwalten und betreuen soll. In dieser Arbeitsgruppe
sind unter anderen die Pirmasenser Volkssänger Hein
und Oss Kröher
und der Sänger
Peter Rohland aktiv.
Die Waldeck ist aber nicht
nur "Singelager" der Jugendbewegung.
Schon in den 50er Jahren ist sie Zentrum politischer und
sozial-pädagogischer
Diskussion . Schon jetzt kommt es zu deutlich spürbaren
Konfrontationen zwischen
dem ebenfalls ansässigen konservativ- patriotischen Nerother
Wandervogel
und den offeneren und progressiveren anderen Gruppen. |
Die
Bündische
Jugend wurde nach dem kriegsbedingten Bruch mit dem deutschen
Volkslied
von
einer
musikalischen "Liedersammelbewegung" bestimmt, die das bündische
Singen
mit ausländischer Folklore bereicherte. Auch die Kröhers und
Rohland sind leidenschaftliche Liedersammler. Sie haben bei einem
Treffen
Ostern 1961 die Idee, auf der Waldeck ein internationales
Folklorefestival zu
organisieren,
auf dem ein "weltmusikalischer" Querschnitt präsentiert werden
soll
. Gleichzeitig erkennen die Organisatoren die Notwendigkeit einer
Rückkehr
zur eigenen, zur deutschen Folklore. Diese Rückkehr in Abgrenzung
zum Mißbrauch der Musik im Nationalsozialismus kommt einer
"Neuschaffung"
der deutschen Folklore gleich; aus diesem Grunde entsteht das
geflügelte
Wort von der Waldeck als "Bauhaus der Folklore".
Chanson Folklore International -
Festivals
Das erste Waldeck-Festival kommt Pfingsten 1964
als
"Chanson Folklore International"
zustande. Relativ spät entscheidet die
organisierende ABW, außer
deutscher Volksmusik internationale Folklore und auch Chanson
ins Programm
zu nehmen, was nach der damals versuchten Definition eigene von
einzelnen
gesungene Lieder sein sollten. Die Teilnahme am Festival wird sogar in
den folgenden Jahren geradezu davon abhängig gemacht, daß
die
Sänger auch etwas "Selbst Gestricktes" vortragen
können.
Die Suche nach Teilnehmern war zunächst eine Sache des
persönlichen
Freundeskreises der Organisatoren. Über die organisierenden
Studentenkreise
wird der linke "pläne"-Verlag angesprochen, in dem Semmer und Süverkrüp
bereits einige Lieder veröffentlichten.
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Hein und Oss
Kröher
|
Auf diesem ersten Treffen
sind es 13 Sänger, die erscheinen; darunter ist Dieter
Süverkrüp
bereits mit eigenen Liedern vertreten.
Wie
alles anfing (2)
"Wir waren natürlich enthusiasmiert
von
dem, was wir hörten aus Amerika. Das hat uns natürlich
gereizt, wenn man in der Zeitung las, auf dem Campus von Berkeley
genügt der Besitz einer Gitarre, um verhaftet zu werden. Das
wollten wir auch gerne, dieser Streit mit der Staatsmacht, das hat uns
gereizt. Uns saß ja noch die abgrundtiefe Spießigkeit der
fünfziger Jahre in den Knochen. Alles dies hat dann in unseren
Gesprächen dazu geführt, dass wir sagten, warum versuchen wir
nicht, auf diesem schönen Gelände, welches uns zur
Verfügung steht, ein Treffen, ein Festival, einen Workshop, eine
große Werkstatt zu machen für Folklore, Folksong, Chanson
und politische Lieder in Deutschland."
Diethart
Kerbs: Die Entstehung der Waldeck-Festivals in den sechziger
Jahren. Vortrag auf dem Treffen des Mindener Kreises am 4.6.1994 in
Minden/Westfalen.
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Das
Festival entwickelt
sich in den nächsten Jahren explosionsartig.
Immer mehr Zuschauer und Sänger strömen um Pfingsten auf die
Burgruine. Gleichzeitig werden selbst geschriebene Lieder immer
wichtiger
und bestimmender. Fast alle der jungen Nachwuchssänger, die auf
der
Waldeck ihre ersten Auftritte vor großem Publikum haben, werden
später
bekannte Liedermacher (Reinhard Mey, Walter
Moßmann, Franz-Josef
Degenhardt, Christof Stählin, Schobert und Black, Rolf Schwendter,
Peter Rohland). Daneben treten bekannte englischsprachige Folksinger
auf
(Hedy West,
Pete Seeger, Colin
Wilkie, Shirley Hart,
Phil Ochs). Spätere Schlagersänger stellen sich mit
internationaler
Folklore
vor (Ivan Rebroff, Katja Ebstein). Manche Künstler sind aber auch
schon vor der Waldecker Zeit einschlägig bekannt (Dieter
Süverkrüp,
Hanns-Dieter Hüsch).
Außerdem treffen
sich auf der Waldeck zahlreiche junge Wissenschaftler, Radiomacher,
Plattenproduzenten,
Schriftsteller und andere Intellektuelle und geben den Treffen zusammen
mit den Musikern durch aktive Diskussionen einen theoretischen
Hintergrund
(Martin
Degenhardt, Reinhard Hippen, Diethard
Kerbs, Rolf-Ulrich
Kaiser, Bruno Tetzner, u.v.a.).
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Auseinandersetzungen
Die Treffen auf der Waldeck verlaufen nicht nur
harmonisch: zunächst
kommt es von Anfang an zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem
"Nerother
Wandervogel", dem die Burgruine gehört, und
der ABW.
Der konservativ bis nationalistisch orientierte "Nerother
Wandervogel" mag sich nicht mit der links gerichteten
Intellektuellenszene abfinden, die ihr Zentrum plötzlich auf der
Waldeck errichtet hat:
es kommt nach einem Rechtsstreit zur hermetischen Abriegelung der
Nerother
auf dem Ruinengelände, der ABW fällt das Festivalgelände
oberhalb der Burg zu.
|
Colin
Wilkie und Shirley Hart
Die Festivals der sechziger Jahre werden fortan begleitet
von Sabotageakten, deren Urheberschaft immer wieder den Nerothern
zugeschrieben
wird: Flaggen werden verbrannt, Stromkabel zerschnitten, Wassertanks
gesprengt,
die Holzbühne wird 1967 angezündet und brennt völlig
nieder.
1969 wird auch die frisch gebaute Betonbühne von unbekannten
Tätern
mit 100 Kilo Sprengstoff zerstört. Zwar ist die Schuld der
Nerother
nicht bewiesen, allerdings streitet der Führer der Organisation,
Karl
Oelbermann, dies auch nicht ausdrücklich ab . Die
Waldeck-Festivals
werden durch die fortgesetzten Anschläge und die
Auseinandersetzungen
mit den Nerothern nicht zuletzt finanziell schwer
geschädigt.
Politisierung
Die Waldeck ist von Anfang an ein politisches Forum,
das sich
gegen
jegliche nationalistische Okkupation des Liedes wehrt.
Auch das
Liedverständnis
der Waldeck ist, wenn man so will, politisch:
"[...] ein Chanson ist ein Lied, das sich dagegen sträubt,
im Chor gesungen zu werden. Dann ist es auch ein Lied, das einen
Hörer
braucht und diesen Hörer gelten läßt. Keine
Manifestation
eines rauschhaften Gemeinschaftsgefühls, sondern eine
Anrede an
den
Einzelnen. [...] das ist die untergründig demokratische Tendenz
aller
Chansons."
Es ist eine logische Folge, daß über die ABW
und
die teilnehmenden
Intellektuellen die Waldeck von der Studentenbewegung
radikal
vereinnahmt
wird. Es treten ab 1967 immer stärker politische Diskussionen und
Forderungen zutage. Mit der Studentenrevolte 1968 schwappt
revolutionärer
Geist auf die Waldeck; es wird diskutiert, resolutiert und kritisiert.
Die Selbermacher geraten in den Sog der revolutionären Bewegung.
Die
auftretenden Künstler sehen sich auf einmal konfrontiert
mit
übersteigerten
Forderungen nach politischer Betätigung. Wer den Forderungen nicht
genügt, wird niederdiskutiert oder -gepfiffen. Am Ende
kristallisiert
sich sogar eine richtiggehende Kunstfeindlichkeit unter dem Slogan
"Stellt
die Gitarren in die
Ecke und diskutiert" heraus.
Das markanteste Beispiel dafür ist der Auftritt Hanns Dieter
Hüschs
1968, der schon nach zwei Liedern abgebrochen werden
muss.
Statt
dessen
verlangen aufgebrachte
Besucher klare politische Stellungnahme, Agitation und Diskussion. Die
Verärgerung Hüschs über dieses Debakel dürfte einer
der Gründe sein, warum seine damalige Zugehörigkeit zur
Liedermacherszene
heute kaum mehr bekannt ist. Hüsch hält sich nach dem
Ereignis
von den großen Liedermacher- Festivals weitgehend fern und agiert
fortan vorwiegend als Einzelkünstler und Einzelgänger.
In dieser Zeit der Politisierung der Waldeck bestimmen einige
Aktivisten
maßgeblich das Geschehen. Eine intellektuelle "Quadriga" (Rolf-Ulrich
Kaiser, Martin Degenhardt, Reinhard Hippen, Tom
Schröder) nimmt schon
ab 1967 intensiv Stellung (unter anderem gegen den Verleger Ernst
Voggenreiter,
der sich "nicht klar genug" von seinem im Nationalsozialismus aktiven
Onkel
distanzierte ).
Einer der bekanntesten Vorreiter der
revolutionären
Sache ist der
Wiener Rolf Schwendter. Der dreifach promovierte Sänger
und
Theoretiker (erste Promotion in Theaterwissenschaften, zweite in
Staatswissenschaften,
dritte in Jura - Freunde nennen ihn dafür scherzhaft Genosse
Genosse
Genosse Schwendter) vertritt mit radikaler Befürwortung von
subkulturellem
Leben und sexueller Befreiung, von Studentenprotest und Kommunismus
exakt
die Vorstellungen der bewegten Studenten auf der Waldeck. Sein
Auftreten
ist bis ins letzte inszenierte Subkultur: er begleitet sich statt mit
der üblichen Gitarre nur mit einer Kindertrommel, lernt keine
Texte
auswendig,
singt "falsch".
Schwendters Auftauchen, von den einen als politisches
Signal, von anderen als "Erfrischung" (Stählin ) gesehen,
beeinflusst
viele Liedermacher der Waldeck.
Aber Schwendters extreme Positionen
verstärken nur den Bruch insbesondere zu den Künstlern, die
sehr
intensiv auf dichterische Qualitäten achten (etwa Stählin)
oder
denen, deren Produkte glatt und gefällig sind und auch sein wollen
(Reinhard Mey). Sie werden von Schwendter auf der Waldeck heftig
angegriffen,
ja, öffentlich-inquisitionär demontiert.
Der Hang zum Extremismus in Position und
Diskussion hat
1968/69 Sprengkraft.
Der Einfluss politischer Kräfte wirkt tatsächlich für
viele
Künstler bremsend, behindernd. Später wird gar von einem
"amusischen"
Einfluss insbesondere des SDS und der DKP auf das Treffen gesprochen.
|
Hanns-Dieter
Hüsch
Gesungene
Flugblätter
Ich
weiß nicht, inwieweit meine Lieder, die ja mehr
„Sprechgesänge“
sind, zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Jedenfalls halte
ich nicht viel von der alten Milchmädchenrechnung, gestern wieder
drei Personen erobert, heute wieder vier Zuhörer überzeugt,
macht
zusammen sieben, also werden wir zwar stückchenweise, aber bald
eine
bessere Gesellschaft haben.
Lieder
machen keine Revolution, das ist richtig, aber die Revolution macht
Lieder.
Die „Bühne“ der Revolution ist die Straße. Die besten Lieder
werden die sein, die man auch unter freiem Himmel singen kann.
Das
alte Kabarett-Chanson, mit seinen „schillernden Pointen“ für ein
kleines
kulinarisches Ausgeh-Publikum, ist mit seinem Schmunzel-Latein nicht
mehr
zu gebrauchen.
Ich
selbst, ich muß das gestehen, bin dabei, mich von dieser
„Lied-Art“
zu lösen. Brillante Formulierungen, reizvolle Assoziationen, ja
selbst
das „äußerst Poetische“, alle diese Mittelchen aus
Liedermachers
Werkstatt sind nur Tröstungen für den Nachhauseweg, aber
keine
Klarsicht-Erklärung zum weitersingen.
Das
effektivste Lied wird in Zukunft das gesungene Flugblatt sein. Es wird
die Gesellschaft nicht von heute auf morgen verändern, aber es
hält
die Revolution in Gang. Es kann aus vier Zeilen bestehen, oder nur aus
zwei Zeilen, vielleicht sogar nur aus einem Wort. Die
Unterdrückten
werden es rufen und schreien, plötzlich werden sie es singen, denn
Lieder machen stark.
Nicht
also das einzelne feingliedrige ästhetische Klein-Kunst-Chanson,
bürgerlich-anspruchsvoll,
bessert die Menschheit, sondern viele Lieder von vielen gesungen
ändern
das System.
SONG-MAGAZN
IEST 68, S.15
|
Rolf
Schwendter
|
Franz-Josef
Degenhardt ändert seinen Stil radikal; er tritt ab 1967
statt mit sensiblen Studien aus dem zwischen-menschlichen Bereich und
gemäßigt politischen Stellungnahmen mit scharfen
Agitpropsongs
auf. Radikale politische Stellungnahme wird zum Postulat erhoben,
feinsinniger
Kunst eine Absage erteilt:
"Zwischentöne sind nur Krampf [...],
Schöne Poesie ist Krampf [...],
Schöne Künste sind nur Krampf im Klassenkampf"
|
Vorsichtiges, Vielschichtiges und Ironisches (wie bei
Hüsch) fällt
den Extrempositionen von Degenhardt, Schwendter und anderen auf der
Waldeck
zum Opfer.
Bruch
Die Widersprüche werden immer größer.
1969
organisiert
nicht mehr die ABW das Festival, sondern eine im Jahr zuvor
gegründete
"Basisgruppe Waldeck", die sich vorwiegend aus den Kreisen des SDS
speist
. Aus dem Folklorefestival wird eine revolutionär-politische
Diskussionswerkstatt,
deren Publikum harsche Forderungen an die Künstler stellt. Doch
während
manche politische Äußerung als verwaschen und
reaktionär
diffamiert wird, haben gänzlich unpolitische Gruppen unbehelligt
Erfolg
(etwa die Comedytruppe "Insterburg und Co").
Die Gründe für den Niedergang der
Festivalkultur auf
der
Waldeck dürften vielgestaltig sein: 1969 ist das Festival, bis auf
wenige Ausnahmen und mit den geschilderten Widersprüchen "voll
politisiert".
Hitzige Kontroversen und musikalische Agitation prägen das
Geschehen.
Die Linke nimmt zunehmend extreme Züge an, so dass der "Waldecker
Friede" empfindlich gestört wird. Etwa die "First Vienna Working
Group",
die den Dogmatismus der Linken durch provokatives Theaterspiel aufs
Korn
nimmt, bekommt die Radikalisierung zu spüren:
"Im großen Festzelt [...] ließen sich die Wiener ein
kapitales Menü auf die Bühne servieren (Krabben etc.) und
spielten
'Waldeck: Diskussion' - will sagen: Berger provozierte mit
gotteslästerlichen
Sprüchen ('Auch der Onkel Ho geht nicht mehr aufs Klo'), wurde als
,Faschist' von der Bühne gedrängt und fand, am nächsten
Tag, sein Auto demoliert vor."
Klaus Böhne (eingetragen am
2.1.07) ergänzt die Darstellung so:
Das äußere Zeitgeschehen ist hinsichtlich des Ablaufes des
letzten
Waldeckfestivals erläuterungsbedürftig:
Neben der Veränderungswut des
SDS, die sich auch in internen, selbstzerfleischenden Diskussionen
äußerte, gab es zwei Ereignisse, die zu dieser Zeit
geschahen. Zum
einen war dies der Biafrakrieg, der durch religiöse und
stammesmäßige Differenzen verursacht, von diversen
Ölproduzenten
unterstützt, in Nigeria tobte. Die Weltpresse war voll von Bildern
dort verhungernder Kinder. Ho Chi Minh starb am 3.9.1969.
In Darmstadt
gastierte eine Wiener Theatergruppe, jene "First Vienna
Working Group", die -das bürgerliche Theaterpublikum provozierend
-
aufführte: „Biafra:Hunger“. Die Darbietung bestand darin, dass die
Agierenden an einem langen Tisch aufgereiht saßen – das Abendmahl
von
Leonardo da Vinci nachahmend -, opulent aßen und ab und zu
zwischen
Rülpsern „Biafra“ sagten und traurig den Kopf schüttelten.
Das Publikum
fiel darauf herein, war empört und steigerte sich in seiner
Aufregung so
weit, bis zur Zufriedenheit der Theatergruppe die Bühne
gestürmt wurde.
„Au, fein,“ dachte
sich der SDS, „diese Bürgerschrecks laden wir uns
auf die Waldeck ein!“ Gesagt, getan. Während des Festivals kam die
Nachricht vom Tode Ho Chi Minhs. Diskussion darüber, ob man nun
das
Festival abbrechen solle, müsse. So gerade rang man sich durch,
trotz
des Verlustes des Genossen Ho weiterzumachen.
Als nun die Wiener
Gruppe auftrat, wurde wieder ein vorzügliches Essen
aufgetragen, wieder allgemeines Gemurmel auf der Bühne, aber kein
„Biafra“. Nach einiger Zeit, schon quälend lange hatte es
gedauert,
erhob sich einer der Darsteller und sagte: „Wir spielen heute nicht
«Biafra:Hunger» sondern «Waldeck:Diskussion» “.
Weiteres Essen und
Gemurmel auf der Bühne. Dann stand wieder einer der Darsteller auf
und
sagte:
„Auch der gute
Onkel Ho
geht nun nicht
mehr auf das Klo!“
Das war nun
zuviel, die Söhne und Töchter der Theaterstürmer in
Darmstadt taten es ihren Eltern nach und stürmten auch hier die
Bühne.
Es ist eben ein
langer Weg bis zu einem verändertem Bewusstsein.
|
Für den endgültigen Bruch gibt es keine
einheitliche
Erklärung.
Tetzner beschreibt ihn als "Überforderung" der traditionell
gesinnten
Bündischen, andere weisen auf die unvereinbaren
Diskussionsstandpunkte
innerhalb der Linken hin. Auch ist der Widerspruch des gegenkulturellen
Entwurfs der "Waldecker"
unvereinbar mit der zunehmenden Kommerzialisierung; Radio und Fernsehen
finanzieren das Festival maßgeblich durch ihre Sendetantiemen.
Die
Kluft zwischen antikapitalistischem Anspruch und kommerzieller
Wirklichkeit
ist immens: "Und alle waren nett zum stets gegenwärtigen
Geldgeber
[Rundfunk und Fernsehen]", konstatiert der SPIEGEL- Reporter
spöttisch
.
Ein letzter Grund mag im raschen Abklingen der
Studentenbewegung Ende
der 60er Jahre liegen; der SDS löst sich
1970
auf. Vermutlich sinkt dadurch in der Folge auch das Interesse der
Basisgruppe,
erneut das aufwendige Projekt durchzuführen.
Zum anderen aber hat die von der Waldeck ausgehende musikalische
Bewegung
die Schaffung von neuen Strukturen mit sich gebracht. Die Waldeck ist
nicht
mehr das einzige Festival; sie bekommt Konkurrenz.
Wirkung
In ganz Deutschland entstehen (bereits parallel zu den
erfolgreichen
Treffen im Hunsrück) neue Folklore- und Liedermacher- festivals.
Die
größten in Waldeck-Nachfolge sind Interfolk Osnabrück,
die Internationalen Essener Songtage
(Organisation
R. U. Kaiser), das Nürnberger Bardentreffen, ein
Liedermachertreffen
in Ingelheim, das Open-Ohr-Festival in Mainz und mit steigender Tendenz
mittlere und kleinere Festivals in großer Zahl.
Außerdem gründen sich in praktisch allen größeren
Städten Folkclubs. Es wird möglich, mit der wieder modernen
Musikrichtung
professionell Geld zu verdienen. In diese Zeit fallen die ersten
Schallplattenaufnahmen
der "Waldecker Barden".
Dass die Waldeck nicht nur als Festival-Modell wirkt, sondern in der
Begegnung mit ihr unmittelbar junge Künstler geprägt werden,
ist etwa an Walter Moßmann zu
erkennen.
Moßmann läßt sich durch das erste "Chanson Folklore
International"
1964 zu eigenen Chansons anregen, tritt bereits ein Jahr später
mit
großem Erfolg und eigenem Repertoire dort auf und wird in der
Folgezeit
einer der wichtigsten und bekanntesten Liedermacher
überhaupt.
Trotz einer sich rasend schnell ausbreitenden Folk-,
Chanson-
und Liedermacherszene
wird die Waldeck auch nach ihrem Zerbrechen das Symbol des neuen
Verständnisses
von volkstümlicher Musik schlechthin bleiben. Sie dient nach ihrer
"Abdankung" weiter als Kommunikations- und Kulturzentrum, als
Liedermachertreffpunkt
und Konzertforum.
Von
1970 bis heute...
|