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- 8-

4. Dezember 1945

    Nun ist deine Familie schon einige Wochen hier. Ich vermag mir die Zeit ohne sie nicht mehr vorzustellen. Das Trippeln der kleinen Füße, das Lachen und Singen sind ebenso unentbehrlicher Bestandteil unseres Lebens wie das Weinen, die gelegentliche Strafe und jede andere unvermeidliche Schattenseite des Daseins. Die Kinder sind gerne da. Waltraut singt den ganzen Tag - sie macht einen zutiefst glücklichen Eindruck. Detlev hat auch sehr frohe Zeiten, wenn er auch manchmal recht weinerlich ist - und Gundelchen ist unser aller Sonnenschein...

   Gestern waren wir (Helga und ich) mit den beiden Großen bei Volkers nachträglicher Geburtstagsfeier. Ich schaute der Sache etwas skeptisch entgegen, da es eine sehr streitbare Gesellschaft ist, und so gab es auch tatsächlich manche zünftige Rauferei. Waltraut war sehr energisch und Dieter war einmal geradezu verblüfft, dass ihm so ungewohnt begegnet wurde. Detlev hat sich bewundernswert tapfer gehalten, obwohl er ja viel kleiner und schwächer ist als der Dieter.

   Heute war nun der Nikolaus da. Die Kinder haben ihre Schuhe vor die Tür gestellt und nach einiger Zeit läutete es dreimal recht lang und aufregend. Die kleine Gesellschaft schob zur Tür. Waltraut und Detlev war die Sache so wenig geheuer, dass sie es nicht wagten, die Tür zu öffnen. Gundelchen aber ging resolut daran, die Sache zu untersuchen, obwohl sie ja am wenigsten die Türklinke erreichen kann. Draußen vor der Tür stand bei jedem Paar Schuhe ein gefüllter Teller. Das war eine Seligkeit! Jedes nahm seinen Schatz in den Arm und trug ihn in die Veranda. Auch Gundel nahm den Teller in ihre winzigen Arme. Detlev war wie verklärt und so lieb wie nur in besten Stunden. Als Gundel ihm den gerade erst erhaltenen Krug zerschlug, beachtete er es kaum, so sehr war sein kleines Herz erfüllt vom lieben Nikolaus.


    Eben ist Waltraut hereingeschlüpft gekommen und ich habe ihr erzählt, dass ich hier für dich aufschreibe, ob die Kinder brav oder schlimm waren. Da sagt sie mit geheimnisvoller Stimme, die dann bei solchen Gelegenheiten ganz tief wird:
     „Jetzt hat der Nikolo trotzdem etwas gebracht!“  Dieses „Trotzdem“ ist kein zornig in die Welt hinaus geschleudertes, den Kampf mit den bösen Mächten aufnehmendes Dennoch, sondern ein erstauntes „Ich hab’s doch gar nicht verdient“ -  sie war nämlich mehrmals am Tag bockig und bockige Kinder sind böse und bekommen nichts geschenkt Und darum versucht sie sich diesen offenbaren Riss in ihrem Weltbild zu erklären:

    „Vielleicht hat er es nicht gesehen.“
   Ich habe ihr erklärt, dass er es sicher gesehen, sie aber trotzdem aus Güte beschenkt hat, damit sie nicht als einzige leer ausgeht. Damit ist ein Problem aufgetaucht, mit dem sie noch nicht fertig geworden ist.

    
6. Dezember:

   Ein anderes schwieriges Problem ist der Bock, der den Kindern immer wieder zu schaffen macht. Seit wir ihn aber personifiziert haben zu einem wirklichen Bock, den man zur Tür hinaus jagen kann, bekämpfen sie ihn wie einen greifbaren Feind.

   Das große Ereignis in ihrem Kinderleben ist, dass sie ,,hinausgeschmissen worden sind von den Franzosen", wie Detlev es immer wieder voller Stolz und Eifer erzählt. Oft spielen sie jetzt Übersiedeln, und auch die Bomben tauchen noch ab und zu in ihren Spielen auf. Am liebsten aber spielen sie Vater, Mutter, Kind in tausend Varianten, wobei die Rollenverteilung gelegentlich auf merkwürdige Weise wechselt, wenn Waltraut auf einmal darauf besteht der Vater zu sein. Vielleicht spürt sie, dass der abwesende Vater besonders wichtig ist - warum sonst würde wohl so viel über ihn geredet, warum sonst würde wohl die Tante Inge das alles hier aufschreiben?


7. Dezember:

   Detlev gab mir heute ganz freiwillig ein Keks von seinem Nikolausteller. Obwohl mir diese ungewohnte Freigiebigkeit recht verdächtig vorkam und ich mir gerade ausmalte, was seine ungebremste Fantasie wohl ausgebrütet haben mochte, kam treuherzig die recht prosaische Erläuterung:
   ,,Weißt du, diese Keks sind gar nicht so gut. Von den Guten hätte ich dir keins gegeben..."


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     ,,Geiz ist geil!“, jubelt uns eine aufdringliche Frauenstimme heute entgegen und fast alle nicken zustimmend.  

     „Es war schon immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu haben“, lautete dagegen 1966 die Botschaft; damit wurden all jene, die sich von den nach großer weiter Welt duftenden Stuyvesant-Jüngern, den Ernte-23-Einfahrern und von Bruno, dem StaubsaugerRasenmäherDrillbohrerGlühbirnenMixer Dosenöffner verfluchenden cholerischen HB- Männchen  absetzen wollten,  dazu eingeladen, sich ihren Lungenkrebs auf edlere Weise mit Hilfe der Marke ATIKA zu verdienen. Die Atika-Zigarette nämlich – eigentlich hieß sie ja Atikah – war in den späten 30-er-Jahren zwar die »meistgerauchte 5 Pf.- Cigarette«, in den sechziger und siebziger Jahren aber wurde sie Status-Symbol der Besserverdienenden.

     Geiz also oder doch lieber etwas teurer? In den goldenen Jahren einer prosperierenden Wirtschaft waren die ökonomischen Eckdaten andere als heute – damals beschimpfte man einen Bundeskanzler, weil er fünf Prozent Arbeitslosigkeit schlimmer fand als fünf Prozent Inflation. Wer ahnte denn damals, dass man jetzt, dreißig Jahre später, Gefahr läuft, sich vielleicht sogar den eigenen Arbeitsplatz wegzugeizen, wenn man nicht mehr genug konsumiert?

     Wenn Geiz geil ist, wenn die Kunden also nur dann noch die Geldbörse öffnen, wenn sie das Gefühl haben, ein ultimatives Schnäppchen zu machen, dann  müssen die Unternehmen die Preise senken, damit sie überhaupt noch etwas verkaufen können. Der kluge Kunde aber findet sehr schnell heraus, dass die Preise fallen und wartet -  am nächsten Tag könnten die Sachen ja noch billiger sein. Da wirft ALDI seinen Tiefpreiscomputer auf den Markt – und einen Tag später erfährt man schwarz auf dunkelrotem Hintergrund, dass, wer diesen Rechner kaufe, selbstverständlich einfach nur blöd sei, weil man nämlich im Media Markt, den bekanntlich nur nicht blöde Kunden aufsuchen, einen besseren Rechner bekomme, der außerdem 99 Euro billiger sei. Hat  man den ALDI-Rechner schon gekauft, beißt man sich vor Ärger in den Bauch, (sofern man für diese Übung gelenkig genug ist), trinkt vor Ärger ausnahmsweise ein Premium Pils und schwört sich, die nächsten Wochen keine der großformatigen Kauf-Verführungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

         Und so geht’s bei dem ganzen Multimedia-Klimbim – da wagt man doch gar nicht mehr, etwas zu kaufen, weil man eben „nicht blöd“ sein will, weil man bestimmt am nächsten Tag im Media Markt oder bei Saturn ein noch besseres Gerät noch billiger finden kann.  Der Fernsehhändler um die Ecke, der der alten Frau Kaczmarek das Gerät in die Wohnung gebracht und dort aufgestellt und installiert hat, kann nicht mehr mithalten, macht zu oder entlässt seine wenigen Mitarbeiter.  Wer entlassen wird, verdient kein Geld. Wer kein Geld verdient, kann sich nichts kaufen – jedenfalls nichts, was nicht absolut lebensnotwendig ist.  Weil auch Staat, Länder und Gemeinden kurz vor der Pleite stehen, sparen sie überall, investieren nicht, nehmen den Bürgern Geld weg, indem sie Steuern erhöhen und verlangen, dass dieselben Bürger anschließend endlich mehr kaufen, damit die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Dann malen sie die Rentenzukunft grau in schwarz, fordern zur privaten Absicherung für das Alter auf und stellen anschließend empört fest, dass die Bürger diese Sparappelle ernst genommen und ein paar Milliarden auf die hohe Kante gelegt haben. Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker, lehret sie halten, was die Götter des Kapitalismus befohlen haben, denn ihnen ist gegeben alle Gewalt auf Erden (im Himmel wahrscheinlich eher nicht), und sagt ihnen, dass sie mehr kaufen müssen.

     Der auf Dauer arbeitslose Fünfzigjährige blickt ob dieser Botschaft staunend auf die Riesengewinne bestimmter Unternehmen, die nun erst recht Leute entlassen – selbstverständlich unter Tränen - , um „international noch besser aufgestellt zu sein“. Das tut den Entlassern ganz furchtbar weh, aber sie müssen halt die bösen Globalzwänge berücksichtigen, und die Entlassenen, sagt der Herr Vorstandsvorsitzende, die sollten doch nicht so miesepetrig sein und mehr Optimismus zeigen und durch das Land müsse ein Ruck gehen und überhaupt seien die Deutschen alle Jammerlappen. Das, berichtet er, habe auch ein Meinungsforschungsinstitut herausgefunden: jeder Dritte von 1.007 Befragten in Deutschland  habe nämlich zugegeben, schon lange nicht mehr laut gelacht zu haben; dabei sei Lachen doch wichtig und habe positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unser Sozialverhalten.

     Gar nicht zum Lachen sei allerdings die bösartige, moraltriefende Kritik an den Abfindungsmillionen für gescheiterte Manager: was da bei uns gezahlt werde, das seien doch nur Erdnüsse im Vergleich zu dem, was in anderen, allerdings nicht sehr konkret benannten Ländern, über den Tisch gehe. So spricht der Vorstandsvorsitzende, macht das Victory- Zeichen und geht mit einem freundlichen Lächeln aus dem Studio.

     Darauf hin sucht der „freigesetzte“ Mitarbeiter mutig und gleichfalls lächelnd in seiner leeren Geldbörse danach, was vom ALG II übrig geblieben ist, gibt sich einen Ruck, den man durch das ganze Land spürt, und fragt sich optimistisch, was ihm zum Ankurbeln der Wirtschaft bleibt. Nachdem er ernüchtert festgestellt hat, dass ihm das Nichts entgegengähnt, gönnt er sich einen hartzhaften Schluck aus der Flasche mit dem Billigbier vom Supermarkt und schmiedet Pläne für seinen unendlich langen Urlaub im Stadtpark.   

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   Detlev ist nicht nur geizig, er ist auch noch gierig - gierig nach Wissen und Erkenntnis. Einmal erzählte ich den Kindern das Märchen vom Dornröschen. Ich beschrieb ihnen, wie das ganze Schloss in Schlaf gesunken sei, nicht nur die Leute, die Tiere und alles, was Leben hat, sondern auch das Feuer und der Braten, der in der Pfanne brutzelte. „Und das Radio auch?“ fragte Detlev. Und als er von mir wegen eines Ausschlages Tabletten bekam,  wollte er wissen, wie diese Tabletten heißen. ,,Calcisan.“ -  ,,Und wie mit Vornamen?“

   Allerdings ist er noch nicht völlig auf die Naturwissenschaften festgelegt - auch mit Märchen kann er durchaus etwas anfangen, selbst wenn er sie ständig kritisch befragt. Das Märchen vom Marienkind beispielsweise, in dem die Jungfrau Maria eine große Rolle spielt, erregte ihn wie seine Geschwister sehr und sie hatten viele Fragen zu stellen. Sie sprachen dann immer vom Fräulein Maria!
 
   Helga erzählte von den Erlebnissen der Kinder im Kindergarten in Hall, wohin sie eine Zeitlang gingen. Als sie nach dem ersten Tag gefragt wurden, was sie gelernt hätten, erzählten sie, dass sie gesungen hätten:
„Im Namen des Vaters und der Mutter…“

   Im Kirchenchor wurde ein Adventslied eingeübt, das die Kinder in ihrem Schlafzimmer so deutlich hörten, dass sie es am nächsten Tag selbst singen konnten. „Dein König kommt, o Zion,“ sangen sie mit Begeisterung. Nur Waltraut ist ein kleiner Irrtum unterlaufen. Sie sang: „Hosianna in der Höhle!“

8. Dezember:

   Neben ihrem Frohsinn ist Waltrauts hervorstechendste Eigenschaft die Mütterlichkeit. Das spricht aus allen Spielen und kommt bei allen Gelegenheiten zum Ausdruck. Einmal kam sie gerade in der Veranda dazu, wie Gundel in den Winkel gesteckt wurde wegen eines nassen Höschens. Mit der Miene einer strengen Gouvernante ging sie an Gundel vorbei: „Du böses Kind, du!“, machte aber dann kehrt und umarmte sie tröstend. Gundel, der die dicken Tränen über das Gesicht liefen, wollte sofort auf Waltraut zu aus dem Winkel gehen und ich hatte Mühe, Waltraut beizubringen, dass ihre kleine Schwester im Winkel bleiben müsse. Da brachte sie ihr wenigstens ein Bilderbuch.

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