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Mein Zimmer

Mein Zimmer liegt auf einem Berg, umgeben von Wiesen. Ich bin gerne da; am Nordrand türmt sich ein Wald auf, dahinter die Bergkämme der Alpen, noch mit Schnee bedeckt. Es ist heiß und die feuchte Luft treibt mir Wasser auf die Stirn. Es muss ein tropisches Land sein, das sich so an mich drängt.

Ich mache mir keine Gedanken über die Geographie. Mein Zimmer ist geräumig, ich habe mein Bett und meine anderen Möbel. Diesen Morgen aber verlieren sie sich bräunlich im Hintergrund, denn heute finde ich ein zweites Bett. Eine Frau scheint es zu belegen; ihr Geruch hängt noch in der Luft. Über ihrem Bett stehen in einem Wandregal mehrere Bücher, deren Titel ich nicht lesen kann, große und kleine, dickleibige und schmale. Die Frau hat das Zimmer eben verlassen, ihr Bett ist nicht gemacht, das Kopfkissen warm. Während ich mit ruhiger Hand darüber streiche, kriecht aus der Wand ein Tier von der Größe einer Heuschrecke - man weiß ja nicht, was man in den eigenen Wänden beherbergt. Stachlig, doch höchst beweglich mit zehn Beinen, funkelt es mich an, bereit zum tödlichen Stich. Mich wird es nicht angreifen, denke ich, mir gehört das Zimmer, aber auf die Frau lauert es, und darum muss ich es vernichten. Mit der Hand kann ich es nicht zerdrücken. Ich entscheide mich deshalb dafür, es mit einem Buch zu erschlagen, aber so weit ich den Arm auch ausstrecke, ich kann die Bücher nicht erreichen, mein Arm ist zu kurz. Ein Stück Papier, mehrfach gefaltet, muss mir den Feind vom Hals schaffen. Mehrere Male schlage ich so auf das Tier ein; es wird kleiner; ein langes, fadendünnes Bein bleibt auf dem noch warmen Bett liegen; der Rest des Tiers entzieht sich; ich versuche es mit einem anderen Gegenstand, aber ich finde keinen, trotzdem das Zimmer voller Gegenstände ist; das beschädigte Tier, immer noch bedrohlich die Stacheln aufstellend, verschwindet irgendwo zwischen Bett und Wandregal. Ich muss die Frau retten, sie kann sich doch so nicht wieder in ihr Bett legen, vielleicht sollte ich es der Reiseleitung melden. Während ich Kopfkissen und Bettdecke lüfte und mich vorsichtig dem Regal nähere, kriecht das Tier wieder aus der Wand. Es hat sich verwandelt; noch eher aber ist es ein zweites Tier, das mir entgegen arbeitet, während das erste in der Mauerritze wartet, bereit zum Gift einflößenden Stich.

Das Tier hat jetzt die Größe einer Maus und die Form eines Schweins oder einer großen Kellerassel. Der dunkelgraue Rückenpanzer ist der Länge nach von Rillen durchzogen. Ich nehme zwei Bücher aus dem Regal und locke das Tier. „Komm, komm“, flüstere ich ihm freundlich zu, und neugierig, wie diese Tiere sind, kommt es auf mich zu. Jetzt zuschlagen; zwei Bücher nehmen und das Tier zerdrücken; frisch auf! wenn du jetzt nicht triffst, dann triffst du nie mehr. Zwischen meinen beiden Büchern eingeklemmt windet es sich, aber es gibt nicht auf; es lässt sich nicht zerdrücken; es ist aus Gummi oder vielleicht aus einem dieser Kunststoffe, die nie rückstandslos verbrennen. Es wird platt, breit, aber kein Blut tritt aus, grünliche Körpersäfte, vermischt mit schwärzlichen fadendünnen Beinteilen, herausgerissen und abgetrennt durch den Druck der Buchkanten, erwarte ich vergeblich. Ich muss dickere Bücher nehmen; erst dicke Bücher vermögen dieser Plage Herr zu werden. Ich löse den Druck, das Tier nimmt wieder seine rundliche Gestalt an. Ich kann hier nicht bleiben. Soll die Reiseleitung sich darum kümmern - was geht mich das Bett der fremden Frau an? In diesem Zimmer werde ich nicht mehr schlafen. Ich muss fort, und ehe ich den Gedanken beendet habe, stehe ich in einem großen, verwinkelten Gebäude mit vielen Zimmern und Fluren und ich weiß, ich werde nie mehr in mein Zimmer zurückkehren. Und käme ich doch,  ich wäre ein anderer, ein Fremder in meiner eigenen Wohnung, nicht mehr und nirgends zu Hause, und in meinem Bett würde  einer liegen, neben sich ein zerquetschtes Tier, aus dem langsam eine dickliche grüngelbe Flüssigkeit austritt und  große Buchstaben auf den Boden malt.

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23 Kilometer

Es ist eine Lehranstalt. Auf dem langen Flur drängen sich zwei große Gruppen von Schülern und suchen einen Raum. Vierzig Kinder, die auf Lateinunterricht warten. Ihnen gegenüber dreißig Kinder, die belehrt werden wollen. Freilich wissen sie nicht worin, aber auch sie haben Anspruch auf einen Raum. Der Lateinlehrer, ein kleiner junger Mann mit entschlossenem Gang, weiß eine Lösung; er kennt einen großen Saal, der jeder Bildung zugänglich ist.

„Wie viele seid ihr?“, frage ich die dreißig anderen Kinder. Sie blicken mich erwartungsvoll an.

„Wir sind nur elf!“

Dreißig oder elf - ich muss mich getäuscht haben, das Zählen fällt mir schon schwer, aber freundlich teile ich ihnen mit, dass ich eine Lösung für sie habe.

„Wir gehen in den Arbeitsraum.“

Ich gehe voraus, durch einen Flur mit großen Fenstern. Sie folgen mir bis zu der verschlossenen Tür, auf die Holzlatten quer und längs genagelt sind. Links davor der Eingang zur Küche; auf der breiten Tischplatte eine verkrustete Kaffeemaschine; davor mehrere Tassen, ungespült, mit schwärzlich-braunem Bodenbesatz dem Ende entgegen schimmelnd.

Ich öffne die Tür zum Arbeitsraum. Er ist viel größer, als ich dachte, und da sitzen auch die, die mir eben noch gefolgt waren - Jüngere unter Älteren, auffällig sich abhebend, aber ruhig und in höflicher Erwartung auf mich blickend.

„F.“, rufe ich, „komm doch bitte!“

B. hebt den Arm, steht auf, schlängelt sich über Bänke und Körper, will zu mir. Ich wehre ihn ab.

„Nein, du nicht! Ich sagte doch M.!“

Nun steht Y. auf, küsst M. auf den Mund, nicht heftig, nur ein Druck trockener Lippen auf trockene Lippen, und zeigt sich bereit mir zu folgen. Ich nehme ihn an meine Seite, er ist etwas unsicher, denn wir stehen ja auf der Straße, an einer riesigen Kreuzung. Ich bin in dieser Stadt nicht zu Hause, es ist eine fremde Stadt, wahrscheinlich eine chinesische, aber noch wahrscheinlicher Moskau. Unser Fahrer, ein kleiner, schwarzhaariger Mann in ärmlicher Kleidung, mit schütterem, von grauen Strähnen durchsetzten Haar, erklärt uns, dass wir nie die andere Straßenseite erreichen würden - der Verkehr sei zu dicht und werde auch in den nächsten Jahren nicht abnehmen.

„Wir fahren in die andere Richtung. Es sind 23 Kilometer, es ist die falsche Richtung, aber die Straßen sind wenigstens frei.“

Und in der Tat - während in der Gegenrichtung die Fahrzeuge in Viererreihen sich fußläufig voran bewegen, zum Stillstand kommen, stehen, warten, um Zentimeter weiter vorrücken, wieder stehen, ist die Straße vor uns rein und leer. Im glatten Straßenbelag spiegelt sich das Mondlicht. Wer wagt hier zu bremsen auf so glattem Untergrund?

Der Kleinbus bewegt sich gleichmäßig vorwärts, von keinem anderen Fahrzeug im Fortkommen gehindert.

„Dreiundzwanzig Kilometer“, wiederholt der Fahrer. „Ich mache das immer. Die falsche Richtung ist ja der direktere Weg.“

Ich nicke, aber meine Zweifel bleiben.

„Wie aber, wenn wir trotzdem bremsen müssen? Die Straße ist glatt wie Eis. Werden wir jemals zum Stillstand kommen?“

„Mein Fahrzeug sieht nur alt aus, aber es ist technisch, wie es sein soll. Die Reifen sind neu, die Heizung funktioniert, die schwarzen Flecken am Rand der Windschutzscheibe sind ohne Bedeutung.“

Und damit beginnt er, weit nach rechts und links ausholende Lenkbewegungen zu machen, eine Schlangenlinie zu fahren - und tatsächlich: Der Wagen bleibt in der Spur, er schleudert nicht, wir können unbesorgt weiterfahren. Auch das steil ansteigende Rollband, das uns nun nach oben befördert, scheint dem Fahrer keine Sorgen zu bereiten, selbst in dem Moment nicht, als es plötzlich stehen bleibt.

„Sind wir zu schwer?“, frage ich, noch nicht wirklich beunruhigt.

„Nein“, antwortet der Fahrer, „es geht gleich weiter. Wir müssen nur ein wenig schieben.“

Er öffnet das Fenster, legt die Hand an den linken Handlauf des Förderbandes, drückt sich etwas nach hinten ab und tatsächlich, das Band setzt sich wieder in Bewegung. Ganz oben, wo die Steigung endet und die Ebene beginnt, führt die Straße unmittelbar in ein Geschäft. Die Tür ist nicht sehr breit, aber wir fahren durch ohne etwas zu beschädigen. Innen erkenne ich Reifenspuren - ja, zweimal im rechten Winkel geht es durch das Geschäft und zur anderen Tür wieder auf die Straße.

Hinter der dunkelbraunen Theke links sitzt eine ältere Frau, das Gesicht quadratisch und faltig, die Haare aschblond, die Nase kräftig und in leichter Krümmung nach innen weisend.

Sie spricht Deutsch, ohne Fehler: Sie sei Jüdin, berichtet sie, und während sie redet, erkenne ich, dass die Stadt wirklich Moskau ist.

Wann sie hierhin gekommen sei, will ich wissen. 1933?

Sie bejaht. 1933 sei sie geflohen, und 1958 habe man sie mit der Leitung dieses Geschäfts, eines Andenkenladens, betraut. Sie sei nicht die Besitzerin, aber sie sei inzwischen selbst eine Sehenswürdigkeit in dem Stadtviertel. Wie um dies zu bestätigen, betritt ein größere Gruppe von Touristen das Geschäft, kleinäugig und gelbhäutig, fest entschlossen, Erinnerungsstücke an ihr Hiersein zu erwerben. Noch versuche ich herauszufinden, welche Sprache gesprochen wird, da sehe ich auf der Straße im Sonnenlicht eine Gruppe junger Menschen, aus denen groß und blond D. herausragt. Er wohne, teilt man mir mit, inzwischen auch in diesem Viertel.

Während ich darüber nachsinne, wie viel Zeit er wohl für den täglichen Weg zur Arbeit aufwenden müsse, verschwimmt das Bild. Mein Fahrer ist nicht mehr da, das Fahrzeug ist verschwunden, die Ladenbesitzerin schaut mich aus tückischen Augen an - wo bin ich, wo bleibe ich? Wer führt mich zurück, da es nach vorne keinen Weg mehr gibt?

 

10/2004

     Brunner - Real-Satire